Freitag, 27. März 2009
Urteil gegen Sextouristen rechtskräftig
Kiel - Das Urteil gegen einen pädophilen Sextouristen aus Neumünster, der in Kambodscha mehrere Kinder sexuell missbraucht hatte, ist rechtskräftig. Der HIV-infizierte einschlägig vorbestrafte Mann war im vergangenen Juli vom Kieler Landgericht zu sechseinhalb Jahren Haft und anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt worden. Wie Gerichtssprecherin Susanne Bracker am Freitag mitteilte, verwarf der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs die Revision einstimmig als unbegründet. Bei Prüfung des Urteils seien keine Rechtsfehler nachgewiesen worden. Die Verteidigung hatte Freispruch verlangt und die Verurteilung angefochten.
Traditionelles Ballett in Kambodscha blüht wieder auf
In den 70er Jahren wurden professionelle Tänzer in Kambodscha mit Mord bedroht, doch jetzt ist die Kunstsparte wieder anerkannt. Besonders traditionelle Tanzstile blühten derzeit wieder auf, sagte die Choreografin Sophiline Cheam Shapiro der deutschen Presseagentur. Der kambodschanische Tanz sei wie eine Mutter, die viele Kinder habe, sagte die Leiterin des Khmer-Arts-Instituts in Phnom Penh. Unter dem Terror-Regime der Roten Khmer waren die überlieferten Tempel-Tänze verboten.
Mittwoch, 18. März 2009
Fräulein Pol Pots Flucht vor der Vergangenheit
Der Vater ein Massenmörder wie Hitler und Stalin, sein Kind eine scheue Schönheit: Pol Pots Tochter studiert heute unter einem Decknamen in Phnom Penh. Von den Killing Fields der Roten Khmer, von den Verbrechen ihres Vaters will sie nichts wissen - sie genießt lieber die Party-Szene.
Phnom Penh - Pol Pot, der Kambodschas Kultur mit Stumpf und Stiel ausrotten wollte, hat sie ausgerechnet nach einer berühmten kambodschanischen Prinzessin benannt: Sitha. Der Vater, der den Tod von fast zwei Millionen seiner Landsleute kühl als "notwendiges Opfer" für "die kommunistische Sache" betrachtete, hat sie häufig zärtlich gestreichelt. Der Vater, der durch den Aufstand der eigenen Leute und mysteriöse Krankheiten geschwächt war, hat an ihre Zukunft gedacht. Wenige Monate vor seinem Tod holte er seinen Sekretär in sein Dschungelquartier von Anlong Veng und nahm ihm das Versprechen ab, sich um seine Frau und das Kind zu kümmern.

Pol Pots Tochter Sitha und ihre Mutter (Aufnahme von 1998): Liebenswertes Mädchen
Was Pol Pot dem Vertrauten als Gegenleistung bot, blieb ungeklärt. Den Zugriff auf angeblich aufgehäufte Goldbarren, den geheimnisvollen Schatz der Khmer Rouge? Ein für andere Politiker brisantes Vermächtnis? Unbestritten ist nur: "Bruder Nr. 1" diktierte seinem Sekretär Tep Khunnal bis zuletzt seine Memoiren.
"Unsere Revolution war richtig"
Pol Pot, neben Hitler und Stalin der schlimmste Massenmörder des vergangenen Jahrhunderts, ist am 15. April 1998 gestorben und bald darauf eingeäschert worden. Seine Genossen verhöhnten den Mann, den sie ein Leben lang gefürchtet hatten, indem sie seinen Lehnstuhl und alte Reifen ins Feuer warfen und ihm nachriefen, nun sei er weniger wert "als Kuhscheiße". Sekretär Tep Khunnal aber hielt Wort. Er brachte Sitha, damals 12, und Pol Pots Frau Meas, damals 36, in ein geheimes Versteck auf die andere Seite der Grenze, nach Thailand. Er heiratete die Witwe und zog das Mädchen wie sein eigenes Kind auf.
Und dann handelte Tep Khunnal mit Premier Hun Sen, dem früheren Roten Khmer, der das Land an der Seite der Vietnamesen befreit hatte, einen erstaunlichen Deal aus: Er durfte sich mit seiner neuen Familie in Kambodscha niederlassen und in dem abgelegenen Distrikt Malai für die Regierungspartei als Gouverneur kandidieren. Seit vielen Jahren nun schon lenkt der Pol-Pot-Sekretär im äußersten Westen des Landes die politischen Geschicke. Er hat - von welchem Geld auch immer - eine Reis-Fabrik aufgebaut und gilt seinen 40.000 Untertanen als fähiger Verwalter: Malai, anders als die meisten Regierungen des Landes, frei von Bars und Bordellen, ist mit seinen strengen Sitten und seinem genossenschaftlichen Zusammenhalt eine Art kambodschanisches Amish-Land.
Besuch empfängt der Distriktvorsteher höchst selten. Als er im November den SPIEGEL in seinem ordentlich aufgeräumten, penibel gesäuberten Büro begrüßt, äußert er sich erstmals zum anstehenden Völkerrechtstribunal gegen die Ex-ZK-Mitglieder der Roten Khmer, darunter den "Bruder Nummer zwei" Nuon Chea, und gegen "Duch", den Chef-Folterer. Tep Khunnal, 56, sagt, er könne das Gerichtsverfahren nicht verstehen. "Unsere Revolution war richtig." Es seien "bedauerliche Dinge vorgekommen", aber das seien doch eher Randerscheinungen gewesen.
Er wollte nur eines sein: der perfekte Sekretär
"Pol Pot war ein Idealist. Er war ein Führer. Und mit den meisten seiner Entscheidungen lag er richtig." Tep Khunnal würde selbstverständlich vor dem Tribunal aussagen, sollte man ihn vorladen. Das sei aber nicht geschehen. Er behauptet aber, über Mordbefehle der Khmer-Rouge-Spitze nichts zu wissen - erstaunlich, da er Mitglied der KP-Planungskommission war. Er will auch keine versteckten Gelder der Roten Khmer erhalten haben, und das von Pol Pot diktierte Vermächtnis, in zwei Dutzend Notizbüchern festgehalten, sei verbrannt. Keine geheimen Informationen, irgendwo in einem Safe gelagert, mit denen er Premier Hun Sen erpressen könnte? Herr Tep schüttelt sich empört. "Ein Gerücht, das ich auch gehört habe - es entbehrt jeder Grundlage."
Tep Khunnal, in Frankreich studiert, von der Revolution begeistert und lange als Uno-Vizebotschafter seines Landes in New York tätig, wollte immer nur eines sein: der perfekte Sekretär. Und wie ist er als Erzieher? Was hat Tep Khunnal, der mit Meas noch ein eigenes Kind bekommen hat, seiner Stieftochter Sitha über Pol Pot erzählt? "Die Wahrheit", sagt er. "Dass er sich bis zuletzt um sie gesorgt hat, ein fürsorglicher Mensch, jedenfalls ihr gegenüber. Dass sie nicht alles glauben soll, was ihr andere möglicherweise über ihn erzählen."
Was Sitha wann vom Genozid der Roten Khmer am eigenen Volk erfahren hat - und über den Hauptverantwortlichen, ihren Vater - ist unklar. In ihrem Gymnasium in der Provinzstadt Sisophon wird Gegenwartsgeschichte nicht gelehrt, die Khmer-Rouge-Zeit bleibt, wie fast überall in Kambodscha, ausgeklammert.
Die schöne Tochter des Kommunistenführers studiert jetzt Betriebswirtschaft
Zwei Journalisten von der "Cambodia Daily" erzählt die damals Achtzehnjährige im Jahr 2004 beim bisher einzigen Interview ihres Lebens, sie bete viel für Pol Pot und bringe in der Pagode den buddhistischen Mönchen regelmäßig Opfer. "Ich würde ihn gern in einem nächsten Leben treffen und dann mehr Zeit mit ihm verbringen", sagt Sitha, höflich, wie alle ihre Mitschülerinnen in "bourgeoise" Schuluniform mit langem, Rock und frisch gestärkter weißer Bluse gekleidet.
Der Stiefvater will, dass sie Englisch lernt und auch über moderne Wirtschaft Bescheid weiß - er meldet sie trotz ihrer durchschnittlichen Zeugnisse an einer Universität in Phnom Penh an. Wo, will er nicht sagen, "die Kleine" solle ihre Ruhe haben. Nur so viel: Sie studiere nicht unter ihrem Namen. Schon 2006 hat die Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit", ausgestattet mit besonders guten Kambodscha-Kontakten, gemeldet, es könne sich um die Pannisastra University of Cambodia halten.
Fräulein Pol Pot alias Sitha alias Sar Patchata alias ihres jetzigen Decknamens hat sich tatsächlich an der PUC eingeschrieben, an Phnom Penhs Eliteuniversität und politischer Kaderschmiede, gefördert von der amerikanischen Regierung. Sie studiert Englisch und Betriebswirtschaft - eine erstaunliche Kombination, bedenkt man, dass es unter den Roten Khmer einem Todesurteil gleichkam, eine Fremdsprache zu beherrschen; zieht man in Betracht, dass ihr Vater alle Banken und Wirtschaftsinstitute schloss, das Geld ganz abgeschafft hatte.
Sie will nichts wissen von den "angeblichen Verbrechen"
Am Anfang ihrer Phnom-Penh-Zeit ist sie nach Aussagen ihres damaligen Freundes ein "besonders liebenswertes" Mädchen gewesen, "die bei weitem hübscheste unter den vier Mädchen aus Malai, mit denen sie zusammenwohnte". Der junge Mann will mit ihr sein Leben teilen. Er berichtet ihr auch von den zahlreichen Familienmitgliedern, die er durch Pol Pots Schreckensherrschaft verloren hat. Als sie ihm erzählt, sie sei die Tochter des Khmer-Rouge-Führers, schweigt er zunächst, sagt dann aber, er glaube nicht an die "Vererbbarkeit von Genen und solchen Schwachsinn", er liebe sie. Er will ihr aber neben seinen Lieblingsplätzen am Flussufer auch die Gedenkstätten an die Horrorzeit zeigen, das Foltergefängnis Tuol Sleng, die Killing Fields, draußen vor der Stadt. Ohne mich, sagt Fräulein Pol Pot. Sie will nichts wissen von den "angeblichen Verbrechen ihres Vaters" und diesem "unsinnigen Tribunal gegen seine Kollegen".
Die beiden leben sich auseinander. Sitha, die einst so Schüchterne, habe sich einen neuen Freundeskreis angelacht, erzählt der junge Mann, "die Reichen und die Mächtigen". Er sieht sie im Sportwagen eines stadtbekannten Playboys, dann in Begleitung eines Jungpolitikers, der sie in die teuren Restaurants führt, dann bei der Einweihung eines High-Society-Discoclubs. Sie wolle in Ruhe gelassen werden, sagt sie bei einem Fest auf eine Anfrage des SPIEGEL nach einem Interview. Fräulein Pol Pot, 22, trägt ein schulterfreies Glitzerkleid, das kurz geschnittene Haar ist leicht aufgehellt. Sie ist eine Schönheit.
Wollte sie wirklich etwas über ihren Vater erfahren, könnte sie die Geschichte über seinen besten Freund in den Archiven des Khmer-Rouge-Dokumentationszentrums nachlesen. Siet Chhe hieß der, hat den "Bruder Nummer eins" im Dschungel während seiner Malaria-Erkrankung auf dem Rücken getragen, ihn gesund gepflegt und ihm auch sonst immer loyal gedient, zuletzt als Regionalsekretär Ost. Wie so viele Kader fiel er aus unerklärlichen Gründen in Ungnade, wurde ins Gefängnis Tuol Sleng eingeliefert und gefoltert. Verzweifelt schrieb er an Pol Pot. "Bitte rette deinen jüngeren Bruder! Ich werde der Partei gegenüber immer loyal sein." Pol Pot würdigte ihn keiner Antwort - und machte so dem Lagerchef klar, dass er keinerlei Rücksichten nehmen musste. Folterknecht Duch ließ Siet Chhe immer schlimmer foltern, aber er wollte ihn darüber hinaus auch noch demütigen. Der Delinquent sollte zugeben, seine eigene Tochter sexuell missbraucht zu haben.
Alle gestanden alles in Tuol Sleng, die folgenden Zeilen sind das einzige Dokument des Widerstehens. "Verehrte Organisation", schrieb Pol Pots bester Freund. "Dies ist der Report über meine Tochter. Ich gestehe, ich habe sie besonders ins Herz geschlossen. Ich habe sie in den Arm genommen, mit der Liebe und Fürsorglichkeit eines Vaters. Die Anschuldigungen, ich hätte mich an ihr vergriffen, sind lächerlich. Ich wünsche ihr, dass sie einen aufrechten und anständigen Revolutionär trifft, mit dem sie ein politisch und moralisch sauberes Leben führen kann."
Duch und Pol Pots andere Schergen quälten den Mann noch fünf Monate. Ein Inzest-Geständnis konnten sie ihm nicht abzwingen. Dann brachten sie Siet Chhe auf die Killing Fields, töteten ihn mit einem Schlag gegen den Nacken und stießen ihn in die Grube.
Phnom Penh - Pol Pot, der Kambodschas Kultur mit Stumpf und Stiel ausrotten wollte, hat sie ausgerechnet nach einer berühmten kambodschanischen Prinzessin benannt: Sitha. Der Vater, der den Tod von fast zwei Millionen seiner Landsleute kühl als "notwendiges Opfer" für "die kommunistische Sache" betrachtete, hat sie häufig zärtlich gestreichelt. Der Vater, der durch den Aufstand der eigenen Leute und mysteriöse Krankheiten geschwächt war, hat an ihre Zukunft gedacht. Wenige Monate vor seinem Tod holte er seinen Sekretär in sein Dschungelquartier von Anlong Veng und nahm ihm das Versprechen ab, sich um seine Frau und das Kind zu kümmern.

Pol Pots Tochter Sitha und ihre Mutter (Aufnahme von 1998): Liebenswertes Mädchen
Was Pol Pot dem Vertrauten als Gegenleistung bot, blieb ungeklärt. Den Zugriff auf angeblich aufgehäufte Goldbarren, den geheimnisvollen Schatz der Khmer Rouge? Ein für andere Politiker brisantes Vermächtnis? Unbestritten ist nur: "Bruder Nr. 1" diktierte seinem Sekretär Tep Khunnal bis zuletzt seine Memoiren.
"Unsere Revolution war richtig"
Pol Pot, neben Hitler und Stalin der schlimmste Massenmörder des vergangenen Jahrhunderts, ist am 15. April 1998 gestorben und bald darauf eingeäschert worden. Seine Genossen verhöhnten den Mann, den sie ein Leben lang gefürchtet hatten, indem sie seinen Lehnstuhl und alte Reifen ins Feuer warfen und ihm nachriefen, nun sei er weniger wert "als Kuhscheiße". Sekretär Tep Khunnal aber hielt Wort. Er brachte Sitha, damals 12, und Pol Pots Frau Meas, damals 36, in ein geheimes Versteck auf die andere Seite der Grenze, nach Thailand. Er heiratete die Witwe und zog das Mädchen wie sein eigenes Kind auf.
Und dann handelte Tep Khunnal mit Premier Hun Sen, dem früheren Roten Khmer, der das Land an der Seite der Vietnamesen befreit hatte, einen erstaunlichen Deal aus: Er durfte sich mit seiner neuen Familie in Kambodscha niederlassen und in dem abgelegenen Distrikt Malai für die Regierungspartei als Gouverneur kandidieren. Seit vielen Jahren nun schon lenkt der Pol-Pot-Sekretär im äußersten Westen des Landes die politischen Geschicke. Er hat - von welchem Geld auch immer - eine Reis-Fabrik aufgebaut und gilt seinen 40.000 Untertanen als fähiger Verwalter: Malai, anders als die meisten Regierungen des Landes, frei von Bars und Bordellen, ist mit seinen strengen Sitten und seinem genossenschaftlichen Zusammenhalt eine Art kambodschanisches Amish-Land.
Besuch empfängt der Distriktvorsteher höchst selten. Als er im November den SPIEGEL in seinem ordentlich aufgeräumten, penibel gesäuberten Büro begrüßt, äußert er sich erstmals zum anstehenden Völkerrechtstribunal gegen die Ex-ZK-Mitglieder der Roten Khmer, darunter den "Bruder Nummer zwei" Nuon Chea, und gegen "Duch", den Chef-Folterer. Tep Khunnal, 56, sagt, er könne das Gerichtsverfahren nicht verstehen. "Unsere Revolution war richtig." Es seien "bedauerliche Dinge vorgekommen", aber das seien doch eher Randerscheinungen gewesen.
Er wollte nur eines sein: der perfekte Sekretär
"Pol Pot war ein Idealist. Er war ein Führer. Und mit den meisten seiner Entscheidungen lag er richtig." Tep Khunnal würde selbstverständlich vor dem Tribunal aussagen, sollte man ihn vorladen. Das sei aber nicht geschehen. Er behauptet aber, über Mordbefehle der Khmer-Rouge-Spitze nichts zu wissen - erstaunlich, da er Mitglied der KP-Planungskommission war. Er will auch keine versteckten Gelder der Roten Khmer erhalten haben, und das von Pol Pot diktierte Vermächtnis, in zwei Dutzend Notizbüchern festgehalten, sei verbrannt. Keine geheimen Informationen, irgendwo in einem Safe gelagert, mit denen er Premier Hun Sen erpressen könnte? Herr Tep schüttelt sich empört. "Ein Gerücht, das ich auch gehört habe - es entbehrt jeder Grundlage."
Tep Khunnal, in Frankreich studiert, von der Revolution begeistert und lange als Uno-Vizebotschafter seines Landes in New York tätig, wollte immer nur eines sein: der perfekte Sekretär. Und wie ist er als Erzieher? Was hat Tep Khunnal, der mit Meas noch ein eigenes Kind bekommen hat, seiner Stieftochter Sitha über Pol Pot erzählt? "Die Wahrheit", sagt er. "Dass er sich bis zuletzt um sie gesorgt hat, ein fürsorglicher Mensch, jedenfalls ihr gegenüber. Dass sie nicht alles glauben soll, was ihr andere möglicherweise über ihn erzählen."
Was Sitha wann vom Genozid der Roten Khmer am eigenen Volk erfahren hat - und über den Hauptverantwortlichen, ihren Vater - ist unklar. In ihrem Gymnasium in der Provinzstadt Sisophon wird Gegenwartsgeschichte nicht gelehrt, die Khmer-Rouge-Zeit bleibt, wie fast überall in Kambodscha, ausgeklammert.
Die schöne Tochter des Kommunistenführers studiert jetzt Betriebswirtschaft
Zwei Journalisten von der "Cambodia Daily" erzählt die damals Achtzehnjährige im Jahr 2004 beim bisher einzigen Interview ihres Lebens, sie bete viel für Pol Pot und bringe in der Pagode den buddhistischen Mönchen regelmäßig Opfer. "Ich würde ihn gern in einem nächsten Leben treffen und dann mehr Zeit mit ihm verbringen", sagt Sitha, höflich, wie alle ihre Mitschülerinnen in "bourgeoise" Schuluniform mit langem, Rock und frisch gestärkter weißer Bluse gekleidet.
Der Stiefvater will, dass sie Englisch lernt und auch über moderne Wirtschaft Bescheid weiß - er meldet sie trotz ihrer durchschnittlichen Zeugnisse an einer Universität in Phnom Penh an. Wo, will er nicht sagen, "die Kleine" solle ihre Ruhe haben. Nur so viel: Sie studiere nicht unter ihrem Namen. Schon 2006 hat die Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit", ausgestattet mit besonders guten Kambodscha-Kontakten, gemeldet, es könne sich um die Pannisastra University of Cambodia halten.
Fräulein Pol Pot alias Sitha alias Sar Patchata alias ihres jetzigen Decknamens hat sich tatsächlich an der PUC eingeschrieben, an Phnom Penhs Eliteuniversität und politischer Kaderschmiede, gefördert von der amerikanischen Regierung. Sie studiert Englisch und Betriebswirtschaft - eine erstaunliche Kombination, bedenkt man, dass es unter den Roten Khmer einem Todesurteil gleichkam, eine Fremdsprache zu beherrschen; zieht man in Betracht, dass ihr Vater alle Banken und Wirtschaftsinstitute schloss, das Geld ganz abgeschafft hatte.
Sie will nichts wissen von den "angeblichen Verbrechen"
Am Anfang ihrer Phnom-Penh-Zeit ist sie nach Aussagen ihres damaligen Freundes ein "besonders liebenswertes" Mädchen gewesen, "die bei weitem hübscheste unter den vier Mädchen aus Malai, mit denen sie zusammenwohnte". Der junge Mann will mit ihr sein Leben teilen. Er berichtet ihr auch von den zahlreichen Familienmitgliedern, die er durch Pol Pots Schreckensherrschaft verloren hat. Als sie ihm erzählt, sie sei die Tochter des Khmer-Rouge-Führers, schweigt er zunächst, sagt dann aber, er glaube nicht an die "Vererbbarkeit von Genen und solchen Schwachsinn", er liebe sie. Er will ihr aber neben seinen Lieblingsplätzen am Flussufer auch die Gedenkstätten an die Horrorzeit zeigen, das Foltergefängnis Tuol Sleng, die Killing Fields, draußen vor der Stadt. Ohne mich, sagt Fräulein Pol Pot. Sie will nichts wissen von den "angeblichen Verbrechen ihres Vaters" und diesem "unsinnigen Tribunal gegen seine Kollegen".
Die beiden leben sich auseinander. Sitha, die einst so Schüchterne, habe sich einen neuen Freundeskreis angelacht, erzählt der junge Mann, "die Reichen und die Mächtigen". Er sieht sie im Sportwagen eines stadtbekannten Playboys, dann in Begleitung eines Jungpolitikers, der sie in die teuren Restaurants führt, dann bei der Einweihung eines High-Society-Discoclubs. Sie wolle in Ruhe gelassen werden, sagt sie bei einem Fest auf eine Anfrage des SPIEGEL nach einem Interview. Fräulein Pol Pot, 22, trägt ein schulterfreies Glitzerkleid, das kurz geschnittene Haar ist leicht aufgehellt. Sie ist eine Schönheit.
Wollte sie wirklich etwas über ihren Vater erfahren, könnte sie die Geschichte über seinen besten Freund in den Archiven des Khmer-Rouge-Dokumentationszentrums nachlesen. Siet Chhe hieß der, hat den "Bruder Nummer eins" im Dschungel während seiner Malaria-Erkrankung auf dem Rücken getragen, ihn gesund gepflegt und ihm auch sonst immer loyal gedient, zuletzt als Regionalsekretär Ost. Wie so viele Kader fiel er aus unerklärlichen Gründen in Ungnade, wurde ins Gefängnis Tuol Sleng eingeliefert und gefoltert. Verzweifelt schrieb er an Pol Pot. "Bitte rette deinen jüngeren Bruder! Ich werde der Partei gegenüber immer loyal sein." Pol Pot würdigte ihn keiner Antwort - und machte so dem Lagerchef klar, dass er keinerlei Rücksichten nehmen musste. Folterknecht Duch ließ Siet Chhe immer schlimmer foltern, aber er wollte ihn darüber hinaus auch noch demütigen. Der Delinquent sollte zugeben, seine eigene Tochter sexuell missbraucht zu haben.
Alle gestanden alles in Tuol Sleng, die folgenden Zeilen sind das einzige Dokument des Widerstehens. "Verehrte Organisation", schrieb Pol Pots bester Freund. "Dies ist der Report über meine Tochter. Ich gestehe, ich habe sie besonders ins Herz geschlossen. Ich habe sie in den Arm genommen, mit der Liebe und Fürsorglichkeit eines Vaters. Die Anschuldigungen, ich hätte mich an ihr vergriffen, sind lächerlich. Ich wünsche ihr, dass sie einen aufrechten und anständigen Revolutionär trifft, mit dem sie ein politisch und moralisch sauberes Leben führen kann."
Duch und Pol Pots andere Schergen quälten den Mann noch fünf Monate. Ein Inzest-Geständnis konnten sie ihm nicht abzwingen. Dann brachten sie Siet Chhe auf die Killing Fields, töteten ihn mit einem Schlag gegen den Nacken und stießen ihn in die Grube.
Jagdhund schnüffelt in Kambodscha nach Tiger-Häufchen
Die Nase führt zum Ziel. Das hoffen zumindest Tierschützer in einem kambodschanischen Naturreservat. Um die letzten verbleibenden Tiger in dem Nationalpark aufzuspüren, haben sie einen Jagdhund eingesetzt. Der in Russland ausgebildete Deutsch-Drahthaar namens Maggie soll nach Tiger-Ausscheidungen schnüffeln. Die Tierschützer wissen nicht genau, wie viele der Raubkatzen noch im Dschungel von Kambodscha leben. Vor 200 Jahren streiften angeblich bis zu 500.000 von ihnen durch die Steppen und Wälder Asiens. Mittlerweile sollen noch rund 5.000 Tiger auf dem Kontinent zu Hause sein.
Freitag, 13. März 2009
Die Kinder der Killing Fields in Kambodscha
Vor 30 Jahren endete in Kambodscha die Schreckensherrschaft der Roten Khmer. Doch obwohl in Phnom Penh endlich die alten Führer vor Gericht stehen, ist die Vergangenheit nach wie vor ein Tabu. Jetzt stehen die alten Führer vor Gericht – und die ersten Opfer beginnen, von ihren Schicksalen zu erzählen.

Ein kleines Mädchen spielt in Kambodscha mit einem Schädel aus der Zeit der Roten Khmer
Die Erinnerungen schmerzen. Noch nie zuvor hat Theavy einen erwachsenen Menschen weinen sehen. Nun laufen der alten Frau Soly neben ihr die Tränen aus den Augen, rinnen über die faltigen Wangen und tropfen schließlich in ihren karierten Schal. Sie hört die Frau schluchzen und wimmern, während sie von ihren beiden Kindern erzählt, die verhungert sind, und von ihrem Mann, der ermordet wurde. Theavy ist erst 17, sie weiß nicht recht, wie sie sich verhalten soll. Sie ist erschrocken von dem, was die alte Frau erzählt, und verlegen angesichts des ungewohnten Gefühlsausbruchs. Doch sie nimmt all ihren Mut zusammen, greift die schlaffe Hand der alten Frau und lässt sie nicht mehr los. Unauffällig nickt ihr der Seminarleiter Herr Muni aufmunternd zu und wendet sich dann wieder dem Rest der Gruppe zu. „Wer hier hat so etwas Ähnliches erlebt?“, fragt er in die Runde. Zögernd heben fast alle der Älteren die Hand.
Das ganze Dorf hat sich heute versammelt. Die Sonne steht fast senkrecht am Himmel in der nordwestlichen Provinz Kambodschas nahe der Stadt Battambang. Unter dem Schatten spendendem Bambusdach gleich neben dem Tempel sitzen alte Menschen mit eingefallenem Gesicht, Mütter und Väter mit kleinen Kindern und Jugendliche in Schuluniform. Seit dem frühen Morgen sind sie hier und versuchen gemeinsam, Worte für etwas zu finden, über das 30 Jahre lang geschwiegen wurde. „Village Dialogue“ heißt dieses Projekt der kambodschanischen Jugendorganisation „Youth for Peace“. Gefördert vom Deutschen Entwicklungsdienst, versuchen Herr Muni und seine Kollegen, die alten und jungen Menschen in den Dörfern miteinander ins Gespräch zu bringen über die dunkelste Ära ihres Landes. Über die Jahre der Roten Khmer, die Kambodscha zu einem Schlachtfeld machten – und die Überlebenden verstummen ließen im Angesicht von Grausamkeit und Elend, für die sich kaum Worte finden ließen.
1975 eroberten die Kommunisten der Roten Khmer unter ihrem Führer Pol Pot die Macht in Kambodscha. Pol Pot war begeisterter Anhänger Maos, für ihn hatte die Kulturrevolution nur einen Fehler: Sie war nicht radikal genug. Noch am Tag seiner Machtergreifung ließ er die Städte evakuieren und die Menschen in Arbeitslager auf das Land treiben. Niemand durfte bleiben, die Botschaften wurden geräumt, Siechende und Verletzte aus Krankenhausbetten gezerrt. Die früheren Eliten des Landes, Künstler, Intellektuelle und ihre Angehörigen wurden sofort umgebracht – schon Französischkenntnisse oder eine Brille auf der Nase galten als reaktionär. Die Roten Khmer errichteten ein perfides Terrorsystem, in dem Tempel und Schulen zu Foltergefängnissen wurden und Reisfelder zu Massengräbern. Aus Furcht vor Verrat und Bespitzelung wurden Hunderttausende Menschen auf primitivste Weise hingerichtet: Man knüppelte sie zu Tode – um keine Patronen zu verschwenden. Vier lange Jahre später waren bis zu drei Millionen Kambodschaner tot: verhungert, ermordet oder an den unmenschlichen Bedingungen in den Arbeitslagern gestorben.
Kambodscha ist ein junges Land
Jede kambodschanische Familie hat in diesen Jahren Angehörige verloren. Heute ist Kambodscha deswegen ein sehr junges Land: Läuft man durch die Straßen der Hauptstadt Phnom Penh, ist ein alter Mensch fast schon eine Ausnahmeerscheinung. Stattdessen sieht man überall junge Leute: zu zweit, zu dritt oder auch zu viert flitzen sie auf ihren Mopeds vorbei, in großen Gruppen sitzen sie auf der niedrigen Mauer an der Uferpromenade des Tonle Sap, essen Maiskolben und trinken Cola. Der durchschnittliche Kambodschaner ist heute 25 Jahre alt, geboren in den Jahren nach der Vertreibung Pol Pots. Der durchschnittliche Kambodschaner verbindet mit diesem Namen allerdings wenig. Youth for Peace hat in einer Studie herausgefunden, dass ein Großteil der kambodschanischen Jugendlichen kaum etwas weiß über die Roten Khmer – und die gelegentlich erzählten Geschichten der Eltern und Großeltern über diese Zeit für Schauermärchen hält.
So ging es Theavy auch lange. Heute schämt sie sich dafür. In der Mittagspause des „Village Dialogue“ erzählt sie von ihren Eltern und versteckt sich dabei ein bisschen hinter ihren langen schwarzen Haaren. Ihre Mutter hat damals ihre jüngere Schwester verloren. Auch in der Familie des Vaters hat es Opfer gegeben – Genaues weiß Theavy nicht. „Ich habe ihnen nie geglaubt, was sie manchmal von früher erzählt haben“, sagt sie leise. Warum? „Es klang so unvorstellbar. Und es war immer ein bisschen wie ein Gerücht. Ich dachte, sie übertreiben, weil sie mir Angst machen wollen. Und nie habe ich so etwas wie einen Beweis gesehen.“
Herr Muni hat Beweise. Er baut in der Pause einige Schautafeln auf. Zu sehen sind Bilder des Grauens: halb ausgegrabene eingeschlagene Schädel in einem Massengrab, ausgemergelte gefesselte Menschen in Folterkammern. Einige Dorfbewohner wenden sich betroffen mit Tränen in den Augen ab. Andere, wie die alte Frau Soly, studieren die Bilder lange und ausführlich. „Das ist mir alles fast ein bisschen viel“, sagt sie und kann doch den Blick nicht abwenden. Später setzt sie sich etwas abseits hin und muss sich ausruhen. Schließlich hat sie heute eine Geschichte erzählt, die sie 30 Jahre lang ganz tief in ihrer verwundeten Seele versteckt gehalten hat. Sie kann sich nicht daran erinnern, jemals zuvor über diese Jahre gesprochen zu haben.
„In vielen Familien war die Pol-Pot-Ära nie ein Thema“, bestätigt Youk Chhang aus seinen Forschungen der letzten Jahre. Auch seine Mutter habe nie über diese Jahre gesprochen. Der Politologe Youk Chhang ist Leiter des „Documentation Center of Cambodia“ und archiviert in einem mehrstöckigen Gebäude nahe des Unabhängigkeitsdenkmals in Phnom Penh, was viele Kambodschaner noch immer verdrängen. „Confessions of Prisoners“ steht auf dem Etikett einer Schublade eines Metallschrankes im Erdgeschoss, „Biographies of Prisoners“ auf einem anderen. Mit dieser Dokumentation des Genozids will Youk Chhang gegen das Vergessen kämpfen und am größten kambodschanischen Tabu rütteln. Seine Gegner in diesem Kampf sind mächtige Verdrängungsmechanismen: Die Scham eines vermeintlich sanftmütigen Volkes, sich beinahe selbst ausgelöscht zu haben, sitzt tief. Opfer und Täter leben bis heute Tür an Tür, oftmals lassen sich die Rollen auch gar nicht eindeutig zuweisen. Fragen nach Schuld und Verantwortung waren so nie einfach zu beantworten – meistens stellte man sie gar nicht erst. Nicht zuletzt blockierten auch die verbliebenen Roten-Khmer-Kader an den Spitzen von Politik, Verwaltung und Wirtschaft die Bemühungen um Aufklärung – bis in die Gegenwart.
Allgemeine Verrohung
Youk Chhang sitzt an seinem Schreibtisch im 3.Stock und ist bereit zu kämpfen, für die Wahrheit und für die Zukunft Kambodschas. „Traumatische Erfahrungen lassen sich nicht auf ewig verdrängen“, sagt er und spricht von dunklen Schatten der Erinnerungen, die über den Familien schweben und als eine diffuse Ahnung des Schreckens von Generation zu Generation weitergegeben werden. Und das mit dramatischen Folgen: Youk Chhang verweist auf aktuelle Kriminalitätsstatistiken seines Landes. Gewalt und Mordfälle unter Jugendlichen seien in Kambodscha weit verbreitet, eine allgemeine Verrohung feststellbar.
Youk Chhang geht an ein Bücherregal, kommt zurück und hält ein Schulbuch in den Händen. Auf dem Titel ist ein altes Foto aus der Zeit Pol Pots: Schwarz gekleidete Menschen mit dürren Körpern heben einen Graben für ein Bewässerungssystem aus. Dieses dünne Buch ist ein kleines Wunder: Erstmalig könnten so die Jahre unter Pol Pot von 1975 bis 1979 im Schulunterricht behandelt werden. In den aktuellen Schulbüchern finden sich gerade mal zwei Sätze über die Diktatur der Roten Khmer – kein Wort von Hunger, Terror und Tod. Youk Chhangs sanfte Stimme wird ein klein wenig lauter: „Unser Land hat es 30 Jahre lang versäumt, die Kinder in den Schulen über die Roter Khmer aufzuklären. Ein furchtbarer Fehler.“
Die persönlich geprägten Geschichten, die kursieren, konnten nie mit objektivem Wissen abgeglichen werden. So wurden die Geschichten von der harten Arbeit bis zum Erschöpfungstod, von der Essensration von drei Löffeln Reis am Tag und dem über Nacht plötzlich verschwundenen Vater zu kollektiven Legenden. „Unter den Roten Khmer hätte man dich dafür hart bestraft!“ – laut Youk Chhang eine gängige Drohformel kambodschanischer Eltern gegenüber ungezogenen Kindern. Diesen Satz hat auch Nailen oft von ihrer Mutter zu hören bekommen. Die 24-jährige Französischstudentin sitzt in einer Ecke des Klubs „Sharky's“ mitten in Phnom Penh und stimmt ihren Bass. In einer halben Stunde wird sie zusammen mit ihren Kollegen der Rockband Thom Thom die kleine Bühne neben der Bar betreten, Bass spielen und singen: über Liebe und Verlust, über soziale Ungerechtigkeit – und über die Roten Khmer. Als Rockband sind sie im von thailändischer Karaoke-Popmusik überspülten Kambodscha ohnehin eine Rarität. Als junge Musiker, die an ihre Altersgenossen appellieren, die dunklen Zeiten niemals zu vergessen, noch viel mehr. „Vielleicht fragen sich ein paar unserer Fans, was es eigentlich mit den Roten Khmer auf sich hat“, hofft Nailen. „Das wäre schon ein Erfolg.“
Nailen lehnt ihren Bass an die Wand und beginnt zu erzählen, woher sie selbst weiß, was es mit den Roten Khmer auf sich hat. Sie spricht über ihre Mutter, die so oft krank und müde ist und deren Lebenszeit viel zu schnell zu verstreichen scheint: „Sie ist eine alte Frau, obwohl sie gerade mal 50 Jahre alt ist.“ Irgendwann hat Nailen angefangen nachzufragen, warum das so ist. Und irgendwann hat die Mutter angefangen zu erzählen: von ihrer Jugend in einem Arbeitslager, von Tagen voller pausenloser Arbeit und Nächten voller Hunger. Von ihrem Bruder, der eines Morgens einfach nicht mehr die Augen aufmachte. Nailen bricht ab und streicht sich die langen Haare hinters Ohr. Oft hat sie seitdem das Gespräch mit ihren Freunden und ihren Kommilitonen über dieses Thema gesucht. Was sie dabei erfahren hat, hat sie noch mehr in ihrem Wunsch nach Aufklärung bestärkt. „Die Idee der Roten Khmer war doch eigentlich sehr gut“, hört sie immer wieder von Gleichaltrigen, „es gab keine Unterschiede zwischen Arm und Reich, alle Menschen waren gleich, alle mussten gleich viel arbeiten und bekamen den gleichen Lohn dafür.“
30 Jahre nach dem Sturz der Roten Khmer hat zwar ein international viel beachteter Prozess gegen die letzten überlebenden Führer begonnen, doch gleichzeitig scheint innerhalb Kambodschas neben der Verdrängung auch die Verklärung in vollem Gange zu sein. Nailen schweigt noch einen Moment. Dann steht sie auf, nimmt ihren Bass und geht auf die Bühne.

Ein kleines Mädchen spielt in Kambodscha mit einem Schädel aus der Zeit der Roten Khmer
Die Erinnerungen schmerzen. Noch nie zuvor hat Theavy einen erwachsenen Menschen weinen sehen. Nun laufen der alten Frau Soly neben ihr die Tränen aus den Augen, rinnen über die faltigen Wangen und tropfen schließlich in ihren karierten Schal. Sie hört die Frau schluchzen und wimmern, während sie von ihren beiden Kindern erzählt, die verhungert sind, und von ihrem Mann, der ermordet wurde. Theavy ist erst 17, sie weiß nicht recht, wie sie sich verhalten soll. Sie ist erschrocken von dem, was die alte Frau erzählt, und verlegen angesichts des ungewohnten Gefühlsausbruchs. Doch sie nimmt all ihren Mut zusammen, greift die schlaffe Hand der alten Frau und lässt sie nicht mehr los. Unauffällig nickt ihr der Seminarleiter Herr Muni aufmunternd zu und wendet sich dann wieder dem Rest der Gruppe zu. „Wer hier hat so etwas Ähnliches erlebt?“, fragt er in die Runde. Zögernd heben fast alle der Älteren die Hand.
Das ganze Dorf hat sich heute versammelt. Die Sonne steht fast senkrecht am Himmel in der nordwestlichen Provinz Kambodschas nahe der Stadt Battambang. Unter dem Schatten spendendem Bambusdach gleich neben dem Tempel sitzen alte Menschen mit eingefallenem Gesicht, Mütter und Väter mit kleinen Kindern und Jugendliche in Schuluniform. Seit dem frühen Morgen sind sie hier und versuchen gemeinsam, Worte für etwas zu finden, über das 30 Jahre lang geschwiegen wurde. „Village Dialogue“ heißt dieses Projekt der kambodschanischen Jugendorganisation „Youth for Peace“. Gefördert vom Deutschen Entwicklungsdienst, versuchen Herr Muni und seine Kollegen, die alten und jungen Menschen in den Dörfern miteinander ins Gespräch zu bringen über die dunkelste Ära ihres Landes. Über die Jahre der Roten Khmer, die Kambodscha zu einem Schlachtfeld machten – und die Überlebenden verstummen ließen im Angesicht von Grausamkeit und Elend, für die sich kaum Worte finden ließen.
1975 eroberten die Kommunisten der Roten Khmer unter ihrem Führer Pol Pot die Macht in Kambodscha. Pol Pot war begeisterter Anhänger Maos, für ihn hatte die Kulturrevolution nur einen Fehler: Sie war nicht radikal genug. Noch am Tag seiner Machtergreifung ließ er die Städte evakuieren und die Menschen in Arbeitslager auf das Land treiben. Niemand durfte bleiben, die Botschaften wurden geräumt, Siechende und Verletzte aus Krankenhausbetten gezerrt. Die früheren Eliten des Landes, Künstler, Intellektuelle und ihre Angehörigen wurden sofort umgebracht – schon Französischkenntnisse oder eine Brille auf der Nase galten als reaktionär. Die Roten Khmer errichteten ein perfides Terrorsystem, in dem Tempel und Schulen zu Foltergefängnissen wurden und Reisfelder zu Massengräbern. Aus Furcht vor Verrat und Bespitzelung wurden Hunderttausende Menschen auf primitivste Weise hingerichtet: Man knüppelte sie zu Tode – um keine Patronen zu verschwenden. Vier lange Jahre später waren bis zu drei Millionen Kambodschaner tot: verhungert, ermordet oder an den unmenschlichen Bedingungen in den Arbeitslagern gestorben.
Kambodscha ist ein junges Land
Jede kambodschanische Familie hat in diesen Jahren Angehörige verloren. Heute ist Kambodscha deswegen ein sehr junges Land: Läuft man durch die Straßen der Hauptstadt Phnom Penh, ist ein alter Mensch fast schon eine Ausnahmeerscheinung. Stattdessen sieht man überall junge Leute: zu zweit, zu dritt oder auch zu viert flitzen sie auf ihren Mopeds vorbei, in großen Gruppen sitzen sie auf der niedrigen Mauer an der Uferpromenade des Tonle Sap, essen Maiskolben und trinken Cola. Der durchschnittliche Kambodschaner ist heute 25 Jahre alt, geboren in den Jahren nach der Vertreibung Pol Pots. Der durchschnittliche Kambodschaner verbindet mit diesem Namen allerdings wenig. Youth for Peace hat in einer Studie herausgefunden, dass ein Großteil der kambodschanischen Jugendlichen kaum etwas weiß über die Roten Khmer – und die gelegentlich erzählten Geschichten der Eltern und Großeltern über diese Zeit für Schauermärchen hält.
So ging es Theavy auch lange. Heute schämt sie sich dafür. In der Mittagspause des „Village Dialogue“ erzählt sie von ihren Eltern und versteckt sich dabei ein bisschen hinter ihren langen schwarzen Haaren. Ihre Mutter hat damals ihre jüngere Schwester verloren. Auch in der Familie des Vaters hat es Opfer gegeben – Genaues weiß Theavy nicht. „Ich habe ihnen nie geglaubt, was sie manchmal von früher erzählt haben“, sagt sie leise. Warum? „Es klang so unvorstellbar. Und es war immer ein bisschen wie ein Gerücht. Ich dachte, sie übertreiben, weil sie mir Angst machen wollen. Und nie habe ich so etwas wie einen Beweis gesehen.“
Herr Muni hat Beweise. Er baut in der Pause einige Schautafeln auf. Zu sehen sind Bilder des Grauens: halb ausgegrabene eingeschlagene Schädel in einem Massengrab, ausgemergelte gefesselte Menschen in Folterkammern. Einige Dorfbewohner wenden sich betroffen mit Tränen in den Augen ab. Andere, wie die alte Frau Soly, studieren die Bilder lange und ausführlich. „Das ist mir alles fast ein bisschen viel“, sagt sie und kann doch den Blick nicht abwenden. Später setzt sie sich etwas abseits hin und muss sich ausruhen. Schließlich hat sie heute eine Geschichte erzählt, die sie 30 Jahre lang ganz tief in ihrer verwundeten Seele versteckt gehalten hat. Sie kann sich nicht daran erinnern, jemals zuvor über diese Jahre gesprochen zu haben.
„In vielen Familien war die Pol-Pot-Ära nie ein Thema“, bestätigt Youk Chhang aus seinen Forschungen der letzten Jahre. Auch seine Mutter habe nie über diese Jahre gesprochen. Der Politologe Youk Chhang ist Leiter des „Documentation Center of Cambodia“ und archiviert in einem mehrstöckigen Gebäude nahe des Unabhängigkeitsdenkmals in Phnom Penh, was viele Kambodschaner noch immer verdrängen. „Confessions of Prisoners“ steht auf dem Etikett einer Schublade eines Metallschrankes im Erdgeschoss, „Biographies of Prisoners“ auf einem anderen. Mit dieser Dokumentation des Genozids will Youk Chhang gegen das Vergessen kämpfen und am größten kambodschanischen Tabu rütteln. Seine Gegner in diesem Kampf sind mächtige Verdrängungsmechanismen: Die Scham eines vermeintlich sanftmütigen Volkes, sich beinahe selbst ausgelöscht zu haben, sitzt tief. Opfer und Täter leben bis heute Tür an Tür, oftmals lassen sich die Rollen auch gar nicht eindeutig zuweisen. Fragen nach Schuld und Verantwortung waren so nie einfach zu beantworten – meistens stellte man sie gar nicht erst. Nicht zuletzt blockierten auch die verbliebenen Roten-Khmer-Kader an den Spitzen von Politik, Verwaltung und Wirtschaft die Bemühungen um Aufklärung – bis in die Gegenwart.
Allgemeine Verrohung
Youk Chhang sitzt an seinem Schreibtisch im 3.Stock und ist bereit zu kämpfen, für die Wahrheit und für die Zukunft Kambodschas. „Traumatische Erfahrungen lassen sich nicht auf ewig verdrängen“, sagt er und spricht von dunklen Schatten der Erinnerungen, die über den Familien schweben und als eine diffuse Ahnung des Schreckens von Generation zu Generation weitergegeben werden. Und das mit dramatischen Folgen: Youk Chhang verweist auf aktuelle Kriminalitätsstatistiken seines Landes. Gewalt und Mordfälle unter Jugendlichen seien in Kambodscha weit verbreitet, eine allgemeine Verrohung feststellbar.
Youk Chhang geht an ein Bücherregal, kommt zurück und hält ein Schulbuch in den Händen. Auf dem Titel ist ein altes Foto aus der Zeit Pol Pots: Schwarz gekleidete Menschen mit dürren Körpern heben einen Graben für ein Bewässerungssystem aus. Dieses dünne Buch ist ein kleines Wunder: Erstmalig könnten so die Jahre unter Pol Pot von 1975 bis 1979 im Schulunterricht behandelt werden. In den aktuellen Schulbüchern finden sich gerade mal zwei Sätze über die Diktatur der Roten Khmer – kein Wort von Hunger, Terror und Tod. Youk Chhangs sanfte Stimme wird ein klein wenig lauter: „Unser Land hat es 30 Jahre lang versäumt, die Kinder in den Schulen über die Roter Khmer aufzuklären. Ein furchtbarer Fehler.“
Die persönlich geprägten Geschichten, die kursieren, konnten nie mit objektivem Wissen abgeglichen werden. So wurden die Geschichten von der harten Arbeit bis zum Erschöpfungstod, von der Essensration von drei Löffeln Reis am Tag und dem über Nacht plötzlich verschwundenen Vater zu kollektiven Legenden. „Unter den Roten Khmer hätte man dich dafür hart bestraft!“ – laut Youk Chhang eine gängige Drohformel kambodschanischer Eltern gegenüber ungezogenen Kindern. Diesen Satz hat auch Nailen oft von ihrer Mutter zu hören bekommen. Die 24-jährige Französischstudentin sitzt in einer Ecke des Klubs „Sharky's“ mitten in Phnom Penh und stimmt ihren Bass. In einer halben Stunde wird sie zusammen mit ihren Kollegen der Rockband Thom Thom die kleine Bühne neben der Bar betreten, Bass spielen und singen: über Liebe und Verlust, über soziale Ungerechtigkeit – und über die Roten Khmer. Als Rockband sind sie im von thailändischer Karaoke-Popmusik überspülten Kambodscha ohnehin eine Rarität. Als junge Musiker, die an ihre Altersgenossen appellieren, die dunklen Zeiten niemals zu vergessen, noch viel mehr. „Vielleicht fragen sich ein paar unserer Fans, was es eigentlich mit den Roten Khmer auf sich hat“, hofft Nailen. „Das wäre schon ein Erfolg.“
Nailen lehnt ihren Bass an die Wand und beginnt zu erzählen, woher sie selbst weiß, was es mit den Roten Khmer auf sich hat. Sie spricht über ihre Mutter, die so oft krank und müde ist und deren Lebenszeit viel zu schnell zu verstreichen scheint: „Sie ist eine alte Frau, obwohl sie gerade mal 50 Jahre alt ist.“ Irgendwann hat Nailen angefangen nachzufragen, warum das so ist. Und irgendwann hat die Mutter angefangen zu erzählen: von ihrer Jugend in einem Arbeitslager, von Tagen voller pausenloser Arbeit und Nächten voller Hunger. Von ihrem Bruder, der eines Morgens einfach nicht mehr die Augen aufmachte. Nailen bricht ab und streicht sich die langen Haare hinters Ohr. Oft hat sie seitdem das Gespräch mit ihren Freunden und ihren Kommilitonen über dieses Thema gesucht. Was sie dabei erfahren hat, hat sie noch mehr in ihrem Wunsch nach Aufklärung bestärkt. „Die Idee der Roten Khmer war doch eigentlich sehr gut“, hört sie immer wieder von Gleichaltrigen, „es gab keine Unterschiede zwischen Arm und Reich, alle Menschen waren gleich, alle mussten gleich viel arbeiten und bekamen den gleichen Lohn dafür.“
30 Jahre nach dem Sturz der Roten Khmer hat zwar ein international viel beachteter Prozess gegen die letzten überlebenden Führer begonnen, doch gleichzeitig scheint innerhalb Kambodschas neben der Verdrängung auch die Verklärung in vollem Gange zu sein. Nailen schweigt noch einen Moment. Dann steht sie auf, nimmt ihren Bass und geht auf die Bühne.
Mittwoch, 4. März 2009
"Selbst ein Freispruch wäre ein Erfolg"

Marcel Lemonde ist Ermittlungsrichter am Völkermord-Tribunal in Kambodscha. Er beschreibt den schweren Weg, nach 30 Jahren den Terror der Roten Khmer aufzuarbeiten. Ein Interview
Der Franzose Marcel Lemonde und sein kambodschanischer Kollege You Bun Leng sind die beiden Ermittlungsrichter am Sondergerichtshof ECCC in Phnom Penh. Das Völkermord-Tribunal zur Aufarbeitung der Terrorherrschaft der Roten Khmer wurde mit Unterstützung der Vereinten Nationen eingerichtet. Die Aufgabe der Ermittlungsrichter ist es, Vorlagen der ermittelnden Staatsanwälte Chea Leang und Robert Petit zu prüfen und dem Gericht, dem Trial Chamber, zuzuleiten. Marcel Lemonde ist 62 Jahre alt. Er hat in Lyon Recht studiert und war zuletzt Präsident des Revisionsgerichtshofs in Paris.
ZEIT ONLINE: Vor fast genau drei Jahren zelebrierten buddhistische Mönche vor den Toren Phnom Pens die Einweihung der Gebäude des neuen Sondergerichtshofes für das Khmer Rouge-Tribunal. Was war so schwierig, dass erst heute der erste Angeklagte Duch, der Gefängnisleiter von Tuol Sleng, vor Gericht steht?
Marcel Lemonde: Es hat nicht drei Jahre gedauert. Es brauchte zunächst schon ein Jahr, um das Gesetzeswerk zu entwerfen, nach dem dieses Verfahren durchgeführt wird. Jedes andere Tribunal musste das auch tun, und für dieses Gericht war es eine besonders schwierige Aufgabe, weil wir internationales und nationales Recht zusammenführen mussten und das kambodschanische Recht noch verbesserungsbedürftig ist. Richter zum Beispiel hatten darin noch keinen legalen Status.
Es ist das erste Mal, das ein hybrides Gericht etabliert wurde, in dem eine Mehrheit von einheimischen Richtern mit internationalen Richtern zusammenarbeitet. Und es ist auch das erste Mal, dass Opfer ein eigenes Nebenklagerecht haben. All dies haben wir in nur neun Monaten erledigt. Im Übrigen brauchen Sie ein Minimum von Zeit, um Personal einzustellen und Büros mit Möbeln und Computern auszustatten. Im Sommer 2007 übergaben uns die ermittelnden Staatsanwälte dann den ersten Fall.
ZEIT ONLINE: Das war der Fall Duch?
Lemonde: Die Akte umfasste fünf Personen. Und wenig später, Ende Juli 2007, haben wir Duch angeklagt und verhaften lassen. Im November wurden die nächsten vier Angeklagten verhaftet. Und kaum ein Jahr später waren die Ermittlungen im Fall Eins abgeschlossen.
ZEIT ONLINE: Warum haben Sie den Fall Duch abgetrennt?
Lemonde: Weil er einfacher ist. Duch ist geständig.
ZEIT ONLINE: Muss das Gericht nicht zuerst einmal entscheiden, ob Duch überhaupt einer der "wichtigsten Personen" des Regimes ist, auf deren Anklage sich das Gericht nach dem vorliegenden Gesetzeswerk beschränken muss ?
Lemonde: Möglicherweise könnte die Verteidigung so argumentieren, ich kenne ihre Strategie nicht. Unsere Ansicht ist, dass er einer der Führer war. Wir haben das im Detail auch begründet.
ZEIT ONLINE: Sie und ihr kambodschanischer Kollege mussten sich einig sein. Auf jeder Ebene dieses hybriden Gerichts arbeiten internationale Juristen Seite an Seite mit kambodschanischen. Macht es die Sache nicht kompliziert?
Lemonde: Ja, unglaublich kompliziert. Das Hauptproblem liegt darin, effektiv zu arbeiten. Jede Entscheidung muss gemeinsam getroffen werden. Es ist ein Albtraum. Wenn es zur Vernehmung von Zeugen kommt, dann würde ich das in meinem Land alleine tun. Und Sie haben ein Übersetzungsproblem. Mein Kollege fragt in Khmer, ich frage in Französisch. Er akzeptierte, dass ich meinen Text diktiere, der dann in Khmer übersetzt wird und später ins Englische. Es war schwierig, sich darauf zu einigen. Es war aber nicht schwierig für ihn zu akzeptieren, dass ich im schriftlichen Protokoll die Führung hatte. Er war sogar damit einverstanden, dass ich alleine mit dem Zeugen rede.
ZEIT ONLINE: Könnte das Verfahren an dieser Hürde scheitern?
Lemonde: Nein, das Verfahren wird gelingen. Ich habe gelernt, sehr geduldig zu sein, sehr vorsichtig. Zu Beginn traf ich noch viele Leute, die sagten: Das wird nie was. Diese Leute waren doch ziemlich erstaunt, als Duch verhaftet wurde. Wir hörten immer wieder: Nuon Chea wird nie verhaftet! Ieng Sary wird nie verhaftet werden! Aber sie wurden verhaftet!
ZEIT ONLINE: Bruder Nr. 2 und der ehemalige Außenminister, der in Phnom Penh bis voriges Jahr mit seiner Frau Ieng Thirith in einer großen Villa lebte, alle drei sind jetzt hier auf dem Gelände des Gerichtshofes in Haft.
Lemonde: Ihr könnt sie verhaften, sagten die Leute, aber ihr werdet nicht gegen sie ermitteln können. Aber jetzt, weniger als ein Jahr später, beginnt der erste Prozess!
TEIL 2
ZEIT ONLINE: Fünf Leute in Haft, liegt darin nicht auch ein Versagen? Ursprünglich hörte man in UN-Kreisen, die Anklage von 20 bis 30 Tätern sei vorgesehen. Nun kam es zum Eklat, weil der ermittelnde Staatsanwalt Rober Petit sich mit seiner kambodschanischen Kollegin Chea Leang nicht über weitere sechs Anklagen einigen konnten, der Fall liegt zur Schlichtung an.
Lemonde: Es gibt viele Probleme. Vom ersten Tag an war mir klar, es würde nicht einfach sein. Aber es ist auch eine faszinierende Erfahrung. Es wäre unendlich viel einfacher, am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag ein Verfahren auf die Beine zu stellen. Aber für die Kambodschaner würde das keinen Sinn machen, dieses juristisch einwandfreie Verfahren würde aus ihrer Sicht auf dem Mond stattfinden. Hier aber können die Opfer selber teilnehmen. Deshalb haben wir ein hybrides Gericht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass internationale Richter alleine kein Verfahren für die Kambodschaner durchführen könnten.
ZEIT ONLINE: Warum nicht?
Lemonde: Weil beide Seiten etwas einbringen müssen. Wir bringen unsere Kompetenz in internationalem Recht ein. Sie haben keine Erfahrung in Verfahren mit Massenmord. Sie haben überhaupt erst eine kurze Erfahrung in Rechtsdingen. Sie dürfen nicht vergessen, dass 1979 in Kambodscha gerade fünf Richter überlebt hatten. Ein Rechtssystem musste aus dem Nichts geschaffen werden. Wir konnten dazu etwas beisteuern, aber auch wir brauchten ihre Unterstützung.
ZEIT ONLINE: Was können die kambodschanischen Kollegen, was Sie nicht können?
Lemonde: Ein Beispiel. Wir haben lange über Exhuminierungen gesprochen. Es gibt Massengräber, die ausgehoben werden könnten, aber daraus ergeben sich viele Probleme, nicht nur finanzieller oder rechtlicher Art. Es ist ein kulturelles Problem. Wenn Sie Schädel und Knochen ausgraben, wie geht man aus buddhistischer Sicht mit ihnen um? Wie begegnet man den umherirrenden Seelen der Toten? Wenn wir etwas tun, was die Bevölkerung nicht versteht oder schockieren würde, dann ist das Verfahren gescheitert.
ZEIT ONLINE: Am Fall Robert Petit können Beobachter den Eindruck gewinnen, dass der kambodschanischen Regierung nicht an einer zügigen Abwicklung gelegen ist.
Lemonde: Möglicherweise. Aber ich habe keine Kontakte zur Regierung. Ich möchte auch keine. Ich lese die Zeitung. Ich bekomme keine Telefonanrufe.
ZEIT ONLINE: Haben Sie den Eindruck, dass das kambodschanische Volk großes Interesse an Ihrem Verfahren hat? Eine neue Studie der Universität in Berkeley behauptet, 39 Prozent der Bevölkerung hätten keine Ahnung von diesem Gericht.
Lemonde: Ich würde es vorziehen zu sagen: Zwei Drittel der Bevölkerung weiß davon. Es gibt im Übrigen auch andere Studien mit anderen Zahlen. Wahr ist, als ich 2006 hier eintraf, gab es außerhalb von Phnom Penh kaum jemanden, der davon wusste. Jetzt sind es immerhin 61 Prozent. Und wenn der Prozess nun beginnt, mit öffentlichen Anhörungen, Fernsehübertragungen, dann werden die Leute darüber reden und die Nachrichten über dieses Gerichtsverfahren wird sich weiter verbreiten.
ZEIT ONLINE: Werden die Menschen verstehen, dass dieses ein Gericht ist, das anders arbeitet als die Gerichte, die sie kennen und fürchten – als korrupte Institutionen?
Lemonde: Um genau das zu erreichen, führen wir das Verfahren hier durch. Wir arbeiten hier seit zwei Jahren mit kambodschanischen Jura-Studenten zusammen, es sind alleine 20 junge Leute hier in meinem Büro. Es ist eindrucksvoll, wie sie ihre Kenntnisse und Fähigkeiten entwickeln, es wird über diesen Prozess hinaus wirken. Und jetzt, wo das Verfahren richtig beginnt …
ZEIT ONLINE: … wirken Korruptionsgerüchte über das ECCC besonders bedrohlich.
Lemonde: Wir internationalen Richter haben wiederholt gesagt, dass wir an einem Verfahren, das von Korruption beschmutzt ist, nicht teilnehmen werden. Und würde sich abzeichnen, dass der juristische Prozess in Mitleidenschaft gezogen ist, dann würden wir gehen. So einfach ist das.
ZEIT ONLINE: Das klingt wie eine Warnung. Oder könnte auch verführerisch klingen – für Kräfte, denen daran liegt, dieses Verfahren zu sabotieren.
TEIL 3
Lemonde: Das wäre vielleicht so aus Sicht der Verteidigung, die unsere Arbeit erschweren möchte. Unsere Aufgabe ist es, das zu verhindern.
ZEIT ONLINE: Der Tod von nahezu zwei Millionen Kambodschanern wird in der Literatur gerne als Genozid bezeichnet – oder als Autogenozid, weil Khmer hier Khmer töteten. Trägt die gesetzliche Grundlage solche Anschuldigungen?
Lemonde: Wir müssen genau das entscheiden, ob es im rechtlichen Sinne Genozid war. Bis jetzt haben wir unsere Anklage auf die verschiedenen Verbrechen gestützt, die als Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder als Kriegsverbrechen definiert sind. Ob sich das ändert, werden die Ermittlungen im Laufe dieses Jahres zeigen.
ZEIT ONLINE: Wo liegen die juristischen Stolpersteine?
Lemonde: Es geht darum, ob und wie der verbreitete systematische Charakter eines Angriffes auf die Zivilbevölkerung auf die Verantwortlichkeit einer einzelnen Person zurückgeführt werden kann. Es sind heikle Fragen, für die wir uns Zeit nehmen müssen, und gleichzeitig sollen wir schnell sein.
ZEIT ONLINE: Ihre Häftlinge sind im fortgeschrittenen Alter. Einer der Hauptverantwortlichen, Pol Pot, ist schon seit Jahren tot. Erst letzte Woche wurde bekannt, dass ein weiterer Würdenträger letztes Jahr verstorben ist. Und Sie müssen eine Verbindung herstellen zwischen den Leichen in den Massengräbern draußen im Land und den Angeklagten in Ihrer Obhut.
Lemonde: Ja, das ist das Problem. Die Verteidigung könnte sagen, okay, vielleicht hat es da draußen auf den Feldern Probleme gegeben, aber wir wussten davon nichts. Dann müssen wir nachweisen, dass sie die Wahrheit sagen oder lügen.
ZEIT ONLINE: Eine große, noch unbekannte Zahl der Toten wurde nicht direkt ermordet, sondern Opfer von Hunger, Krankheit, Verzweiflung. Wie ist das juristisch zu fassen?
Lemonde: Die Verteidigung fragt genau das. Das zu beantworten ist unsere Aufgabe. Die Historiker haben dazu gearbeitet, wir können ihre Ergebnisse nicht ignorieren, aber wir müssen doch Richter bleiben, was bedeutet, wir müssen auch die Unschuldsvermutung ernst nehmen.
ZEIT ONLINE: Wenn es, aus diesen juristischen Gründen, zu Freisprüchen käme – wäre das Verfahren dann nicht gescheitert?
Lemonde: Auch ein Freispruch kann ein Erfolg sein, wenn er richtig begründet ist.
ZEIT ONLINE: Aber würde das kambodschanische Volk das verstehen? Oder doch eher, seiner Erfahrung mit den Gerichten folgend, auf Korruption tippen?
Lemonde: Eine Entscheidung, die nicht verstanden wird, das wäre in der Tat ein Scheitern. Aber wenn eine solche Entscheidung klar ist, weil man sie richtig erklärt hat, dann kann sie auch ein Erfolg sein. Ich will damit nicht sagen, dass ich auf Freisprüche hoffe. Aber wir organisieren hier nicht etwas wie den Schauprozess gegen Ceauşescu, der mit Gerechtigkeit nichts zu tun hatte. Wir versuchen hier ein regelrechtes Verfahren durchzuführen. Darin liegt immer eine Form von Unsicherheit. Es wäre kein faires Verfahren, wenn es die Möglichkeit zum Freispruch nicht gäbe.
Die Fragen stellte Susanne Mayer
Burma und Kambodscha lehnen Gespräche mit Menschenrechtlern ab
Die südostasiatische Staatengemeinschaft ASEAN hat bei ihrem Gipfeltreffen in Thailand über das geplante Menschenrechtsinstitut debattiert. Dabei entbrannte ein Streit um die Teilnahme von Menschenrechtsaktivisten an einem Treffen mit den Gipfel-Teilnehmern.
Burma und Kambodscha lehnten die Teilnahme von Menschenrechtsaktivisten aus ihren Ländern an dem geplanten Treffen der Staats- und Regierungschefs mit Vertretern der Zivilgesellschaft ab, wie der Leiter des Asiatischen Forums für Menschenrechte und Entwicklung, Yap Swee Seng, im thailändischen Hua Hin mitteilte.
Der burmesische Regierungschef Thein Sein und sein kambodschanischer Amtskollege Hun Sen hätten mit einem Boykott des Treffens gedroht, sollten die Vertreter aus ihren Ländern teilnehmen.
Die Staats- und Regierungschefs der zehn ASEAN-Länder wollten am Wochenende die Richtlinien für das geplante Menschenrechtsinstitut festlegen. Am Freitag hatten die Aussenminister einen Entwurf abgesegnet, der eine Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen in den Mitgliedländern ausschliesst, wenn das betreffende Land nicht zustimmt.
Kritiker sprachen deshalb von einer Alibi-Einrichtung, die in Wirklichkeit wenig zur Einhaltung der Menschenrechte beitragen kann.
Bei dem Gipfeltreffen geht es vorrangig um die Finanzkrise und deren Auswirkungen auf die Region. Die ASEAN-Mitgliedstaaten wollten zudem den Weg zu einer Gemeinschaft nach Vorbild der EU vereinbaren.
Zur ASEAN gehören Burma, Brunei, Indonesien, Kambodscha, Laos, Malaysia, die Philippinen, Singapur, Thailand und Vietnam. Die Staaten haben zusammen fast 500 Millionen Einwohner.
Burma und Kambodscha lehnten die Teilnahme von Menschenrechtsaktivisten aus ihren Ländern an dem geplanten Treffen der Staats- und Regierungschefs mit Vertretern der Zivilgesellschaft ab, wie der Leiter des Asiatischen Forums für Menschenrechte und Entwicklung, Yap Swee Seng, im thailändischen Hua Hin mitteilte.
Der burmesische Regierungschef Thein Sein und sein kambodschanischer Amtskollege Hun Sen hätten mit einem Boykott des Treffens gedroht, sollten die Vertreter aus ihren Ländern teilnehmen.
Die Staats- und Regierungschefs der zehn ASEAN-Länder wollten am Wochenende die Richtlinien für das geplante Menschenrechtsinstitut festlegen. Am Freitag hatten die Aussenminister einen Entwurf abgesegnet, der eine Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen in den Mitgliedländern ausschliesst, wenn das betreffende Land nicht zustimmt.
Kritiker sprachen deshalb von einer Alibi-Einrichtung, die in Wirklichkeit wenig zur Einhaltung der Menschenrechte beitragen kann.
Bei dem Gipfeltreffen geht es vorrangig um die Finanzkrise und deren Auswirkungen auf die Region. Die ASEAN-Mitgliedstaaten wollten zudem den Weg zu einer Gemeinschaft nach Vorbild der EU vereinbaren.
Zur ASEAN gehören Burma, Brunei, Indonesien, Kambodscha, Laos, Malaysia, die Philippinen, Singapur, Thailand und Vietnam. Die Staaten haben zusammen fast 500 Millionen Einwohner.
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