
Marcel Lemonde ist Ermittlungsrichter am Völkermord-Tribunal in Kambodscha. Er beschreibt den schweren Weg, nach 30 Jahren den Terror der Roten Khmer aufzuarbeiten. Ein Interview
Der Franzose Marcel Lemonde und sein kambodschanischer Kollege You Bun Leng sind die beiden Ermittlungsrichter am Sondergerichtshof ECCC in Phnom Penh. Das Völkermord-Tribunal zur Aufarbeitung der Terrorherrschaft der Roten Khmer wurde mit Unterstützung der Vereinten Nationen eingerichtet. Die Aufgabe der Ermittlungsrichter ist es, Vorlagen der ermittelnden Staatsanwälte Chea Leang und Robert Petit zu prüfen und dem Gericht, dem Trial Chamber, zuzuleiten. Marcel Lemonde ist 62 Jahre alt. Er hat in Lyon Recht studiert und war zuletzt Präsident des Revisionsgerichtshofs in Paris.
ZEIT ONLINE: Vor fast genau drei Jahren zelebrierten buddhistische Mönche vor den Toren Phnom Pens die Einweihung der Gebäude des neuen Sondergerichtshofes für das Khmer Rouge-Tribunal. Was war so schwierig, dass erst heute der erste Angeklagte Duch, der Gefängnisleiter von Tuol Sleng, vor Gericht steht?
Marcel Lemonde: Es hat nicht drei Jahre gedauert. Es brauchte zunächst schon ein Jahr, um das Gesetzeswerk zu entwerfen, nach dem dieses Verfahren durchgeführt wird. Jedes andere Tribunal musste das auch tun, und für dieses Gericht war es eine besonders schwierige Aufgabe, weil wir internationales und nationales Recht zusammenführen mussten und das kambodschanische Recht noch verbesserungsbedürftig ist. Richter zum Beispiel hatten darin noch keinen legalen Status.
Es ist das erste Mal, das ein hybrides Gericht etabliert wurde, in dem eine Mehrheit von einheimischen Richtern mit internationalen Richtern zusammenarbeitet. Und es ist auch das erste Mal, dass Opfer ein eigenes Nebenklagerecht haben. All dies haben wir in nur neun Monaten erledigt. Im Übrigen brauchen Sie ein Minimum von Zeit, um Personal einzustellen und Büros mit Möbeln und Computern auszustatten. Im Sommer 2007 übergaben uns die ermittelnden Staatsanwälte dann den ersten Fall.
ZEIT ONLINE: Das war der Fall Duch?
Lemonde: Die Akte umfasste fünf Personen. Und wenig später, Ende Juli 2007, haben wir Duch angeklagt und verhaften lassen. Im November wurden die nächsten vier Angeklagten verhaftet. Und kaum ein Jahr später waren die Ermittlungen im Fall Eins abgeschlossen.
ZEIT ONLINE: Warum haben Sie den Fall Duch abgetrennt?
Lemonde: Weil er einfacher ist. Duch ist geständig.
ZEIT ONLINE: Muss das Gericht nicht zuerst einmal entscheiden, ob Duch überhaupt einer der "wichtigsten Personen" des Regimes ist, auf deren Anklage sich das Gericht nach dem vorliegenden Gesetzeswerk beschränken muss ?
Lemonde: Möglicherweise könnte die Verteidigung so argumentieren, ich kenne ihre Strategie nicht. Unsere Ansicht ist, dass er einer der Führer war. Wir haben das im Detail auch begründet.
ZEIT ONLINE: Sie und ihr kambodschanischer Kollege mussten sich einig sein. Auf jeder Ebene dieses hybriden Gerichts arbeiten internationale Juristen Seite an Seite mit kambodschanischen. Macht es die Sache nicht kompliziert?
Lemonde: Ja, unglaublich kompliziert. Das Hauptproblem liegt darin, effektiv zu arbeiten. Jede Entscheidung muss gemeinsam getroffen werden. Es ist ein Albtraum. Wenn es zur Vernehmung von Zeugen kommt, dann würde ich das in meinem Land alleine tun. Und Sie haben ein Übersetzungsproblem. Mein Kollege fragt in Khmer, ich frage in Französisch. Er akzeptierte, dass ich meinen Text diktiere, der dann in Khmer übersetzt wird und später ins Englische. Es war schwierig, sich darauf zu einigen. Es war aber nicht schwierig für ihn zu akzeptieren, dass ich im schriftlichen Protokoll die Führung hatte. Er war sogar damit einverstanden, dass ich alleine mit dem Zeugen rede.
ZEIT ONLINE: Könnte das Verfahren an dieser Hürde scheitern?
Lemonde: Nein, das Verfahren wird gelingen. Ich habe gelernt, sehr geduldig zu sein, sehr vorsichtig. Zu Beginn traf ich noch viele Leute, die sagten: Das wird nie was. Diese Leute waren doch ziemlich erstaunt, als Duch verhaftet wurde. Wir hörten immer wieder: Nuon Chea wird nie verhaftet! Ieng Sary wird nie verhaftet werden! Aber sie wurden verhaftet!
ZEIT ONLINE: Bruder Nr. 2 und der ehemalige Außenminister, der in Phnom Penh bis voriges Jahr mit seiner Frau Ieng Thirith in einer großen Villa lebte, alle drei sind jetzt hier auf dem Gelände des Gerichtshofes in Haft.
Lemonde: Ihr könnt sie verhaften, sagten die Leute, aber ihr werdet nicht gegen sie ermitteln können. Aber jetzt, weniger als ein Jahr später, beginnt der erste Prozess!
TEIL 2
ZEIT ONLINE: Fünf Leute in Haft, liegt darin nicht auch ein Versagen? Ursprünglich hörte man in UN-Kreisen, die Anklage von 20 bis 30 Tätern sei vorgesehen. Nun kam es zum Eklat, weil der ermittelnde Staatsanwalt Rober Petit sich mit seiner kambodschanischen Kollegin Chea Leang nicht über weitere sechs Anklagen einigen konnten, der Fall liegt zur Schlichtung an.
Lemonde: Es gibt viele Probleme. Vom ersten Tag an war mir klar, es würde nicht einfach sein. Aber es ist auch eine faszinierende Erfahrung. Es wäre unendlich viel einfacher, am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag ein Verfahren auf die Beine zu stellen. Aber für die Kambodschaner würde das keinen Sinn machen, dieses juristisch einwandfreie Verfahren würde aus ihrer Sicht auf dem Mond stattfinden. Hier aber können die Opfer selber teilnehmen. Deshalb haben wir ein hybrides Gericht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass internationale Richter alleine kein Verfahren für die Kambodschaner durchführen könnten.
ZEIT ONLINE: Warum nicht?
Lemonde: Weil beide Seiten etwas einbringen müssen. Wir bringen unsere Kompetenz in internationalem Recht ein. Sie haben keine Erfahrung in Verfahren mit Massenmord. Sie haben überhaupt erst eine kurze Erfahrung in Rechtsdingen. Sie dürfen nicht vergessen, dass 1979 in Kambodscha gerade fünf Richter überlebt hatten. Ein Rechtssystem musste aus dem Nichts geschaffen werden. Wir konnten dazu etwas beisteuern, aber auch wir brauchten ihre Unterstützung.
ZEIT ONLINE: Was können die kambodschanischen Kollegen, was Sie nicht können?
Lemonde: Ein Beispiel. Wir haben lange über Exhuminierungen gesprochen. Es gibt Massengräber, die ausgehoben werden könnten, aber daraus ergeben sich viele Probleme, nicht nur finanzieller oder rechtlicher Art. Es ist ein kulturelles Problem. Wenn Sie Schädel und Knochen ausgraben, wie geht man aus buddhistischer Sicht mit ihnen um? Wie begegnet man den umherirrenden Seelen der Toten? Wenn wir etwas tun, was die Bevölkerung nicht versteht oder schockieren würde, dann ist das Verfahren gescheitert.
ZEIT ONLINE: Am Fall Robert Petit können Beobachter den Eindruck gewinnen, dass der kambodschanischen Regierung nicht an einer zügigen Abwicklung gelegen ist.
Lemonde: Möglicherweise. Aber ich habe keine Kontakte zur Regierung. Ich möchte auch keine. Ich lese die Zeitung. Ich bekomme keine Telefonanrufe.
ZEIT ONLINE: Haben Sie den Eindruck, dass das kambodschanische Volk großes Interesse an Ihrem Verfahren hat? Eine neue Studie der Universität in Berkeley behauptet, 39 Prozent der Bevölkerung hätten keine Ahnung von diesem Gericht.
Lemonde: Ich würde es vorziehen zu sagen: Zwei Drittel der Bevölkerung weiß davon. Es gibt im Übrigen auch andere Studien mit anderen Zahlen. Wahr ist, als ich 2006 hier eintraf, gab es außerhalb von Phnom Penh kaum jemanden, der davon wusste. Jetzt sind es immerhin 61 Prozent. Und wenn der Prozess nun beginnt, mit öffentlichen Anhörungen, Fernsehübertragungen, dann werden die Leute darüber reden und die Nachrichten über dieses Gerichtsverfahren wird sich weiter verbreiten.
ZEIT ONLINE: Werden die Menschen verstehen, dass dieses ein Gericht ist, das anders arbeitet als die Gerichte, die sie kennen und fürchten – als korrupte Institutionen?
Lemonde: Um genau das zu erreichen, führen wir das Verfahren hier durch. Wir arbeiten hier seit zwei Jahren mit kambodschanischen Jura-Studenten zusammen, es sind alleine 20 junge Leute hier in meinem Büro. Es ist eindrucksvoll, wie sie ihre Kenntnisse und Fähigkeiten entwickeln, es wird über diesen Prozess hinaus wirken. Und jetzt, wo das Verfahren richtig beginnt …
ZEIT ONLINE: … wirken Korruptionsgerüchte über das ECCC besonders bedrohlich.
Lemonde: Wir internationalen Richter haben wiederholt gesagt, dass wir an einem Verfahren, das von Korruption beschmutzt ist, nicht teilnehmen werden. Und würde sich abzeichnen, dass der juristische Prozess in Mitleidenschaft gezogen ist, dann würden wir gehen. So einfach ist das.
ZEIT ONLINE: Das klingt wie eine Warnung. Oder könnte auch verführerisch klingen – für Kräfte, denen daran liegt, dieses Verfahren zu sabotieren.
TEIL 3
Lemonde: Das wäre vielleicht so aus Sicht der Verteidigung, die unsere Arbeit erschweren möchte. Unsere Aufgabe ist es, das zu verhindern.
ZEIT ONLINE: Der Tod von nahezu zwei Millionen Kambodschanern wird in der Literatur gerne als Genozid bezeichnet – oder als Autogenozid, weil Khmer hier Khmer töteten. Trägt die gesetzliche Grundlage solche Anschuldigungen?
Lemonde: Wir müssen genau das entscheiden, ob es im rechtlichen Sinne Genozid war. Bis jetzt haben wir unsere Anklage auf die verschiedenen Verbrechen gestützt, die als Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder als Kriegsverbrechen definiert sind. Ob sich das ändert, werden die Ermittlungen im Laufe dieses Jahres zeigen.
ZEIT ONLINE: Wo liegen die juristischen Stolpersteine?
Lemonde: Es geht darum, ob und wie der verbreitete systematische Charakter eines Angriffes auf die Zivilbevölkerung auf die Verantwortlichkeit einer einzelnen Person zurückgeführt werden kann. Es sind heikle Fragen, für die wir uns Zeit nehmen müssen, und gleichzeitig sollen wir schnell sein.
ZEIT ONLINE: Ihre Häftlinge sind im fortgeschrittenen Alter. Einer der Hauptverantwortlichen, Pol Pot, ist schon seit Jahren tot. Erst letzte Woche wurde bekannt, dass ein weiterer Würdenträger letztes Jahr verstorben ist. Und Sie müssen eine Verbindung herstellen zwischen den Leichen in den Massengräbern draußen im Land und den Angeklagten in Ihrer Obhut.
Lemonde: Ja, das ist das Problem. Die Verteidigung könnte sagen, okay, vielleicht hat es da draußen auf den Feldern Probleme gegeben, aber wir wussten davon nichts. Dann müssen wir nachweisen, dass sie die Wahrheit sagen oder lügen.
ZEIT ONLINE: Eine große, noch unbekannte Zahl der Toten wurde nicht direkt ermordet, sondern Opfer von Hunger, Krankheit, Verzweiflung. Wie ist das juristisch zu fassen?
Lemonde: Die Verteidigung fragt genau das. Das zu beantworten ist unsere Aufgabe. Die Historiker haben dazu gearbeitet, wir können ihre Ergebnisse nicht ignorieren, aber wir müssen doch Richter bleiben, was bedeutet, wir müssen auch die Unschuldsvermutung ernst nehmen.
ZEIT ONLINE: Wenn es, aus diesen juristischen Gründen, zu Freisprüchen käme – wäre das Verfahren dann nicht gescheitert?
Lemonde: Auch ein Freispruch kann ein Erfolg sein, wenn er richtig begründet ist.
ZEIT ONLINE: Aber würde das kambodschanische Volk das verstehen? Oder doch eher, seiner Erfahrung mit den Gerichten folgend, auf Korruption tippen?
Lemonde: Eine Entscheidung, die nicht verstanden wird, das wäre in der Tat ein Scheitern. Aber wenn eine solche Entscheidung klar ist, weil man sie richtig erklärt hat, dann kann sie auch ein Erfolg sein. Ich will damit nicht sagen, dass ich auf Freisprüche hoffe. Aber wir organisieren hier nicht etwas wie den Schauprozess gegen Ceauşescu, der mit Gerechtigkeit nichts zu tun hatte. Wir versuchen hier ein regelrechtes Verfahren durchzuführen. Darin liegt immer eine Form von Unsicherheit. Es wäre kein faires Verfahren, wenn es die Möglichkeit zum Freispruch nicht gäbe.
Die Fragen stellte Susanne Mayer